Seit wann gibt es Stadt, Land, Fluss?

Ursprünge des Spiel­prin­zips, Eta­blie­rung des Namens, und Ab­schwei­fungen in aller­lei in­te­res­sante Ne­ben­the­men.

2025-12-06

Übersicht

„Seit wann gibt es eigentlich Stadt, Land, Fluss?“ Auf diese Frage schien das Internet noch keine Antwort zu haben. Zumindest keine mit Quellenangaben.

Damit zukünftige Suchen zum Ursprung des Spieleklassikers nicht mehr leer ausgehen, beschreibt dieser Artikel ein kleines Recherche-Projekt, das folgendes Ergebnis liefert: den Namen „Stadt, Land, Fluss“ gibt es seit spätestens 1937 [33], das Spielprinzip, je nach Auslegung, aber schon seit 1784 [1]. Einen Überblick der graduellen Entwicklung gibt folgende Abbildung.

Abbildung 1: Literaturquellen zu „Stadt, Land, Fluss“ und Vorgängervarianten.

Jeder Punkt in der obigen Abbildung repräsentiert eine Literaturquelle. Der dazugehörige Originaltext lässt sich durch Anklicken einblenden. Die Ursprünge von Stadt, Land, Fluss lassen sich hieraus wie folgt interpretieren. Zwischen 1784 und 1934, oben dargestellt als Kreise, finden sich gesprochene Varianten (Pfänderspiele), bei denen reihum in Form eines Satzes geantwortet wird. Beispiel: „Ich heiße Alex, komme aus Aachen, und handle mit Antiquitäten“ (ein Name, ein Ort, eine Ware). Das Grundprinzip wäre damit schon mal erreicht.

Ab spätestens 1887, in der Abbildung als Dreiecke gezeigt, sind Schreibvarianten bekannt, bei denen in einer gegebenen Zeit so viele Antworten pro Kategorie wie möglich aufzuschreiben sind. Hier findet sich auch vermehrt die Idee, dass Kategorien frei gewählt werden können. Wir kommen dem heutigen Spielprinzip also näher und näher.

Der Name „Stadt, Land, Fluss“, sowie die gegenwärtigen Regeln, scheinen sich in den 1930ern etabliert zu haben. So sehen die oben als Sterne dargestellten Varianten nur noch eine Antwort pro Kategorie vor, und Spieler müssen aufhören zu schreiben, sobald der erste fertig ist. Allerdings heißen noch nicht alle davon „Stadt, Land, Fluss“, sondern es finden sich auch die Namen „Das Achterspiel“ und „Ein lehrreiches Spiel“.

Seit wann gibt es also Stadt, Land, Fluss? Es scheint sich vom 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts nach und nach entwickelt zu haben. Hintergründe zur Recherche und eine detailliertere Diskussion der Ergebnisse sind im Folgenden beschrieben.

Das Recherche-Projekt ist im Übrigen so ausgelegt, dass jederzeit weitere Quellen hinzugefügt werden können. Mehr dazu hier.

Inhalt

Motivation

Warum dem Ursprung von Stadt, Land, Fluss nachgehen? Kurz gesagt: es schien eine Informationslücke zu sein, die sich realistisch als kleines Projekt für nebenher schließen lässt, und die unterwegs aufgrund des Recherchegegenstands (alte Texte über Spiele) auch noch Unterhaltung bringt. Letzteres sollte sich bewahrheiten, aber die alten Texte hatten auch diverse Stolpersteine parat.

Kurz zur Ausgangslage: Wie oben bereits erwähnt, ließen sich zum Ursprung von Stadt, Land, Fluss keinerlei Informationen mit Belegen finden. „Ende 19. Jahrhundert“ stand in der Wikipedia mal, was aber wegen fehlender Quellen entfernt wurde. Auch ein Blick in die akademische Literatur brachte nichts hervor — nur die gleiche Angabe wie in der Wikipedia, in fast unverändertem Wortlaut und ebenfalls ohne Quelle, im Buch Spielend gewinnen.

Zielsetzung

Initiales Ziel war, die erste Erwähnung von „Stadt, Land, Fluss“ — als Bezeichnung für das Spiel — in der Literatur ausfindig zu machen. Sowie klar wurde, dass das Spielprinzip älter als der Name ist, stellte sich zusätzlich die Frage, wo dieses seine Ursprünge hat. Um dabei einigermaßen systematisch vorgehen zu können, braucht es Kriterien, anhand derer entschieden werden kann, ob ein Spiel als Stadt-Land-Fluss-Vorgänger anzusehen ist oder nicht. Wo die Grenze dabei gezogen wird, ist schlussendlich eine arbiträre Entscheidung.

Die vorliegende Recherche soll folgende zwei Kriterien voraussetzen: Antworten müssen gegeben werden (1) für einen Buchstaben (2) in mehreren Kategorien. Dadurch Ausgeschlossen werden beispielsweise UAWG, bei dem Wörter mit „U“, „A“, „W“ und „G“ beginnen, also Kriterium 1 nicht erfüllt ist, und Das goldene ABC, bei dem nur ein einzigens Wort mit dem gegebenen Anfangsbuchstaben gefragt ist, also Kriterium 2 nicht erfüllt wird.

Um den Suchraum etwas einzugrenzen, soll die Recherche primär deutschsprachige Quellen zum Gegenstand haben. Eine Sprach- und Kulturraum umfassende Betrachtung wäre zwar interessant, würde fürs erste aber den Rahmen sprengen.

Herausforderungen

Man könnte meinen, dass eine simple Suche auf Google Books genügt, um kurzerhand frühe Erwähnungen von Stadt, Land, Fluss in der Literatur ausfindig zu machen. Der Name des Spiels und die Geschichte der deutschen Sprache erschweren das Vorhaben allerdings.

Schauen wir zuerst auf den Namen. „Stadt, Land, Fluss“ ist kein Eigenname wie Catan oder Qwirkle, sondern eine Wortfolge, die ganz natürlich in einem Satz vorkommen kann. So findet sich beispielsweise im Buch Land-Charten Lust-Spiel von 1735 auf Seite 10 folgender Satz.

Hat man nicht nöthig zu wiſſen, ob dasjenige was man ſuchet, eine Stadt, Land, Fluß, See oder Gegend, ꝛc. man kan es doch finden, alsdenn man das begehrte in der Charte ſuchet.

Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn man versucht, Forschung zum Ursprung des Spiels ausfindig zu machen. Aufgrund seiner Bekanntheit wird „Stadt, Land, Fluss“ nämlich gerne in Titel allerlei Werke gesteckt, die menschliche Lebensräume und Natur thematisieren. Hier ein paar Beispiele:

  • Stadt – Land – Fluss: Sozialer Wandel im regionalen Kontext ↗︎
  • Stadt. Land. Fluss. : ein Hochwasserschutz für die Ortschaft Hofarnsdorf in der Wachau ↗︎
  • Stadt — Land — Fluß... Alstergeschichten ↗︎
  • Stadt, Land, Fluss. Deutschlandbilder im deutschen zeitgenössischen Film ↗︎
  • stadt.land.fluss : neue Identität für Innsbrucks Uferzone ↗︎
  • Stadt, Land, Fluss : Natur- und Stadtlandschaften digital fotografieren ↗︎

Erschwerend hinzu kommt noch, wie oben erwähnt, die Geschichte der deutschen Sprache. Insbesondere die ereignisreiche Vergangenheit des Buchstaben „S“. So war bis 1996 der „Fluss” noch ein „Fluß“. Und bis in die 1930er waren „Buchstaben“ noch „Buchſtaben“ — mit einem langen s.

Die Suchfunktionen mancher Portale bügeln derartige Variantenvielfalt glatt, und liefern zu Suchanfragen nach „Fluss“ und „Buchstabe“ auch Ergebnisse mit „Fluß“ und „Buchſtabe“. Allerdings kann man sich darauf keineswegs verlassen und ist daher gut beraten, alle möglichen Schreibweisen durchzuprobieren. Damit hört der Spaß aber noch nicht auf. Denn die Texte, in denen man sucht, kommen aus Druckerzeugnissen. Eine Texterkennungssoftware hat also nach bestem Wissen und Gewissen die Buchstaben identifiziert. Dabei können Fehler wie die folgenden entstehen.

  • „Fluß“ → „FluB“
  • „Buchſtabe“ → „Buchftabe“
  • „Anfang“ → „Ansang“

Der letzte Fall, also dass ein „f“ zum „s“ wird, kommt bei Systemen vor, die das „ſ“ (langes s) kennen und automatisch in ein „s“ umwandeln. Was also passiert, ist, dass ein „f“ fälschlicherweise als „ſ“ erkannt und dann als „s“ gespeichert wird.

Quizfrage zur Veranschaulichung: wie viele mögliche Variationen ergeben sich auf Basis oben beschriebener Schreibvarianten und Texterkennungsfehler für die Zeichenkette „Fluss mit Anfangsbuchstabe B“? Tipp: nur das letzte „s“ kann zum „ſ“ werden, da das lange s nicht am Wortende oder für Fugenlaute verwendet wird. (Antwort hier im Quelltext. 36 ist falsch.)

Wir halten abschließend fest, dass „Stadt, Land, Fluss“ aufgrund seiner sprachlichen Gewöhnlichkeit, sinnbildlichen Prägnanz, und Entstehung in einer Sprachentwicklungsperiode reich an Veränderungen ein eher undankbarer Recherchegegenstand ist. Wie man trotzdem fündig wird, ist im Folgenden beschrieben.

Recherche

Die in diesem Artikel vorgestellten Literaturquellen zu Stadt, Land, Fluss sind das kombinierte Ergebnis aus drei verschiedenen Rechercheansätzen.

  1. Manuelle Suche: in thematisch relevanten Archiven
  2. Stichwort-Suche: in allerlei Quellen mit Suchfunktion
  3. KI-gestützte Suche: im digitalisierten Gesamtbestand einer Bibliothek

1.) Für die manuelle Suche verwendet wurden das Archiv Spielforschung und Playing Arts der Universität Mozarteum (122 Werke), sowie die historischen Kinder- und Jugendbücher der Staatsbibliothek zu Berlin, deren Titel das Wort „Spiele“ beinhaltet (46 Werke). Vorgehen war dabei jeweils: anhand des Titels abwägen, ob der Inhalt inspiziert werden sollte, anhand des Inhaltsverzeichnisses vielversprechende Sektionen verorten, und sofern digitalisierter Volltext vorhanden ist, zusätzlich nach „Buchstabe“ suchen und den umliegenden Text überprüfen. Ergebnis: 12 Literaturquellen. Notizen mit Details dazu hier.

2.) Die Stichwort-Suche umfasst sieben Quellen und 11 Suchbegriffe — folglich 77 Suchen. Quellen sind oben genannte zwei Archive sowie das deutsche Zeitungsportal, ANNO (österreichisches Pendant), Wikisource, das Internet Archive, und Google Books. Die Suchbegriffe sind „Stadt, Land, Fluss“ in sechs Varianten („Fluß“/„FluB“/...), „Buchstabe Spiel Stadt“ in drei Varianten, „Alphabet Spiel Stadt“, sowie „und handle mit“. Suchergebnisse wurden jeweils anhand des Textes um den Treffer beurteilt. Ergebnis: 10 Literaturquellen + weitere 2 durch Folgesuchen in Zeitungsportalen mit weiteren Suchbegriffen. Notizen mit Details hier.

3.) Gegenstand der KI-gestützten Suche ist die Staatsbibliothek Berlin. Über 25.000 Werke bzw. knapp 5 Millionen Seiten Text, die von den wundervollen Leuten bei der Stabi als Datensatz frei verfügbar gemacht wurden. Die Grundidee für die Suche ist recht simpel. Ein Sprachmodell beurteilen lassen, ob ein Stück Text ein Spiel beschreibt, das ähnlich zu Stadt, Land, Fluss ist, und die vermeintlichen Funde dann händisch überprüfen.

Spannend wird das Ganze aber, weil bei insgesamt 5 Millionen Seiten auch schon eine vermeintlich kurze Bearbeitungszeit und niedrige Kosten pro Seite schnell unrealistisch zeitintensiv und teuer werden. Beispiel: GPT-5 kostet momentan pro 1 Million Tokens (≈Wörter) $ 1.25 bei der Eingabe (was man dem Modell sagt) und $ 10.000 bei der Ausgabe (was das Modell antwortet). Schätzt man nun pro Seite 5.000 Eingabe-Tokens und 25 Ausgabe-Tokens, kommt man auf ein Kostenschätzung von $ 1,2 Millionen.

Noch spannender wird die Sache, da günstigere KI-Modelle weniger „clever“ sind, und deshalb im Zweifelsfall ausführlichere Anweisungen brauchen. Da Anweisungen für jede Seite anfallen, multipliziert sich jedes zusätzliche Eingabe-Token dann mit der Zahl der zu verarbeitenden Seiten. — Details wie Prompt-Caching und die Möglichkeit der Verarbeitung mehrerer Seiten in einer „Konversation“ usw. seien der Kürze halber hier weggelassen.

Das Resultat diverser Abwägungen und Tests sah schlussendlich wie folgt aus. Es werden nur Seiten betrachtet, die entweder das Wort „Spiel“, „Alphabet”, oder „Anfangsbuchstabe” beinhalten. Dieser Stichwort-Vorfilter reduziert den Datensatz schon mal von 5 Millionen auf 138.000. Jede der verbleibenden Seiten wird dann beurteilt von Mistral Small 3.2, einem vergleichsweise leichtgewichtigen Modell. Kniffe, um der KI trotz Sparsamkeit bei der Gewichtsklasse möglichst brauchbare Urteile zu entlocken:

  • In-Context-Learning: als Teil der Anweisungen werden mehrere korrekte Beispiele von Ein-/Ausgabe-Paaren mitgegeben.
  • Chain-of-Thought: anstatt die KI direkt ein Urteil fällen zu lassen, lässt man sie innerhalb ihrer Antwort Schritt für Schritt darauf hinarbeiten.
  • Trennung von Anweisungen und Daten: zu beurteilende Texte auf Deutsch, Instruktionen auf Englisch.
  • Trefferquote > Genauigkeit: bei Tests vor allem darauf achten, dass tatsächliche Funde nie als irrelevant beurteilt werden.

Hier die KI-Anweisungen in ihrer Gänze. Von den 138.000 Seiten wurden damit 139 als relevant identifiziert — enthalten laut KI also eine Beschreibung eines Stadt-Land-Fluss-ähnlichen Spiels. Tatsächliche Treffer waren nach manueller Überprüfung nur 22; davon 12 neu und 10 bereits aus den vorherigen Recherchen bekannt. Gekostet hat der Spaß schlussendlich übrigens $ 66,59. Notizen mit Details hier und hier.

Mit den drei verschiedenen Rechercheansätzen — manuell, Stichwort-basiert, KI-gestützt — ließen sich so insgesamt 36 Literaturquellen ausfindig machen. Im Folgenden werden die Funde genauer besprochen.

Ergebnisse

Wir beginnen mit einem erneuten Blick aufs große Ganze, und widmen uns danach den vielen kleinen Entdeckungen, die die Recherche auf dem Weg mit sich brachte. Wie zu Beginn in Abbildung 1, finden sich unten wieder alle Literaturquellen auf einem Zeitstrahl. Kreise sind weiterhin gesprochene Varianten, Dreiecke geschriebene Varianten mit Mehrfachnennung, und Sterne die Spielform, die wir heutzutage kennen. Über die Schaltflächen auf der rechten Seite lassen sich verschiedene Spielegruppen hervorheben.

Abbildung 2: Gruppierte Literaturquellen zu „Stadt, Land, Fluss“ und Vorgängervarianten.

Am häufigsten vertreten in den Literaturquellen ist das „Kaufmannsspiel“ [1, 2, 3, 4, 5, 8, 11, 12, 17, 21, 22, 23, 27, 31]. Ein einheitlicher Name scheint sich für das Spiel nie wirklich etabliert zu haben. So heißt es erst „Handlungs-Spiel“ [1], dann „Kaufmannsſpiel“ [2], später „Mit gegebenen Anfangsbuchſtaben“ [11], „ABC-Spiel“ [12], usw. Das Spielprinzip ist allerdings immer das gleiche. Reihum muss für einen gegebenen Anfangsbuchstaben ein Name, ein Ort, und eine Ware genannt werden. In den meisten Fällen erfolgt das in einem Satz, wie beispielsweise „Ich heiße Alex, komme aus Aachen, und handle mit Antiquitäten“.

Ebenfalls häufig in der Literatur beschrieben, allerdings von Beginn an mit einem einheitlichen Namen, ist „Mein Nachbar gefällt mir“ [6, 9, 10, 14, 24, 25, 28]. Auch hier wird wieder in Form eines Satzes geantwortet. Anzugeben ist, warum der Nachbar einem gefalle, womit man ihn ernährt, wohin man ihn schickt, und was man ihm auf die Reise mitgibt. Auf das gegenwärtige Stadt-Land-Fluss-Prinzip übertragen könnten die Kategorien also „positive Eigenschaft“, „Nahrungsmittel“, „Ort“, und „Gegenstand“ sein. Eine leichte Abwandlung stellt [25] dar, bei dem gefragt ist, warum, wo, und wann der Nachbar einem gefalle.

Beim Spiel „Die Post“ [13, 18] sind zwei Orte und ein Gegenstand zu nennen. Dafür wird ein Wortwechsel wie folgt eingeleitet: „Trara!“ → „Wer da?“ → „Die Post.“, worauf dann erfragt wird, woher die Post kommt, wohin sie geht, und was sie bringt.

Vor der Zielgeraden in Richtung Stadt, Land, Fluss, hier die verschiedenen Einzelerscheinungen in der Literatur. „Le Logement“ [7] ist eine französische Quelle, die das Sprachmodell identifiziert hat, und interessante optionale Kategorien wie z.B. „Baum-Art“ und „Medikament“ vorschlägt. Das „Rei­ſe­ſpiel“ [19] fordert einen Satz mit einem Namen, einer Stadt, einem Gebirge, einem Gegenstand, und einem Eigenschaftswort. Beispiel aus der Quelle: „Ich heiße Anton, reise morgen von Altona über die Alpen nach Alexandrien, suche dort Anemonen und kehre altersschwach heim.“ Bei „Das ABC-Abfragen“ [20] wird reihum pro Spieler spontan eine Kategorie vorgegeben, was das Spiel als Rechercheergebnis grenzwertig macht, allerdings sind die Kategorie-Beispiele wie „Bauwerk“, „Gemälde“, und „Gewerbe“ sehr Stadt-Land-Fluss-typisch. Das englische „The Holiday ABC“ [26] ist ein weiterer Grenzfall, bei dem ein Reiseziel genannt werden muss, sowie eine Vorhabensbekundnung aus Wörtern mit dem gegebenen Anfangsbuchstaben. Beispiel: „Brighton“ mit „Breath briny breezes“. Zu guter Letzt sind „Steeple-Chase“ [15] und „Das Fünf­minuten­ſpiel“ [16] die ersten Schreibvarianten in den Recherche-Ergebnissen. Allerdings sind als Kategorien noch nicht „Stadt“, „Land“, und „Fluss“ vorgesehen.

Das „Schreibspiel“ [29] und „Wer reiſt mit“ [30] — in der Abbildung oben als „Proto-Stadt-Land-Fluss“ gruppiert — unterscheiden sich vom heutigen Spielprinzip nur noch dadurch, dass in einem gegebenen Zeitlimit so viele Antworten wie möglich aufzuschreiben sind.

„Das Achterſpiel“ [32] und „Ein lehrreiches Spiel“ [34] sind Stadt, Land, Fluss, nur noch nicht so benannt, und entsprechend oben als „= Stadt, Land, Fluss“ ausgezeichnet. Letzteres ([34]) ist die erste Quelle, die das ikonische Aufsagen des ABC im Kopf zur Buchstabenwahl beschreibt.

Damit verbleiben nur noch die Quellen zu „Stadt, Land, Fluß“ [33, 35, 36], die das Spiel nun auch so nennen. Die These, dass der Name „Stadt, Land, Fluss“ sich in den 1930er Jahren etabliert hat, stützt sich auf die Tatsache, dass aus dem Jahr 1937 eine Quelle mit der Bezeichnung „Stadt, Land, Fluß“ [33] existiert, und 1938 mit „Ein lehrreiches Spiel“ [34] eine spätere Quelle mit noch anderem Namen. Wäre „Stadt, Land, Fluss“ als Bezeichnung 1938 bereits weitgehend bekannt gewesen, hätten die Herausgeber des „Neuigkeits-Welt-Blatt“ [34] das Spiel auch so benannt.

Ob sich das Spielprinzip von Stadt, Land, Fluss entlang der hier präsentierten Quellen tatsächlich graduell entwickelt hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Die Quellen zu „Vorgängervarianten“ sind lediglich Beschreibungen von Spielen, die Ähnlichkeiten aufweisen. In keiner der Quellen steht explizit, dass eine der vorherigen Spiele die Inspiration für das vorliegende gewesen sei. Im Großen und Ganzen legt die allmähliche Annäherung an das heutige Spielprinzip eine graduelle Entwicklung allerdings nahe.

Kuriositäten

Zu guter Letzt werfen wir einen Blick auf das Sammelsorium an kleinen Erkenntnissen, Entdeckungen, und Kuriositäten, die den Unterhaltungsfaktor während der Recherche hochgehalten haben.

Der Begriff „Pfänderspiel“ war mir neu. Ein heutzutage noch verbreiteter Vertreter ist womöglich „Ich packe meinen Koffer“. Zumindest in den 90ern hat man das noch gespielt.

Afrika wird in den gewissermaßen wichtigsten beiden Quellen als Land genannt. In der ältesten Quelle überhaupt, dem „Handlungs-Spiel“, ist das Beispiel für „A“: „Ich heiſſe Auguſt, komme aus Afrika, und handle mit Affen.“ [1], und in der ältesten Quelle für den Spiel-Namen „Stadt, Land, Fluß“ heißt es: „Mit ‚A‘ würde es, wenn es richtig und fertig wäre, ſo ausſehen: Augsburg, Afrika, Ahr, Alpen, Albert, Anſtreicher, Aſter, Affe.“ [33].

Nahtlos weiter auf besagtem Kontinent, findet sich in „Mein Nachbar gefällt mir“ von 1909 ein Relikt der Zeit, in der die Quellen entstanden sind. Folgende Antwort wird als Beispiel für den Buchstaben „D“ gegeben: „Mein lieber Nachbar gefällt mir, weil er keine Dochte verſchluckt, und darum von mir mit Dorſchleber geſpeiſt wird. Ich ſchicke ihn nächſtes Jahr nach Durſtfeld in Deutſch-Südweſtafrika zur Sommerfriſche und gebe ihm ein Donnerwetter mit auf den Weg“ [14].

In einer Beschreibung von „Mein Nachbar gefällt mir“ aus dem Jahr 1836, wird für „B“ auf die Reise „ein halb Schock Birnen“ mitgegeben [6]. „Schock“ war offenbar eine Mengeneinheit für 60 Stück. Aus dem Handwörterbuch der deutschen Sprache von 1849: „gew. eine Zahl von 60 Stück od. 4 Mandel, ſ. d. (z.B. ein Schock Äpfel, Eier, Käſe; zwei Schock Nüſſe; ein Schock Garben ꝛc.)“. Entsprechend ist das Mandel definiert als „eine Zahl von fünfzehn Stück derſelben Art (ein Mandel Eier, Nüſſe ꝛc.; vier Mandel machen ein Schock)“.

Das bis hier her im Text unkommentiert verwendete „ꝛc.“ ist eine historische Schreibvariante von „etc.“, die ein rundes r beinhaltet. Die Verwendung von „ꝛ“ für das „et“ in „et cetera“ hat ihren Ursprung offenbar darin, dass es dem „⁊“ ähnelt — dem Zeichen für „et“ in tironischen Noten, einem römischen Kurzschriftsystem.

Eine weitere Entdeckung im Bereich Sprachgebrauch fand sich in „Mit gegebenen Anfangsbuchſtaben“ von 1882: „Ich heiße Atreus, komme von Attika, handle mit Antiquitäten und reiſe nach dem Aetna“ [11]. Reise „nach dem“ Ätna? Nicht „zum“ Ätna? Stellt sich heraus, so wurde das damals tatsächlich verwendet. Beispiel: das Buch „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ erschien 1873 auf deutsch unter dem Titel „Reise nach dem Mittelpunkt der Erde“.

Unterhaltungswert war aber nicht nur auf Relikte aus der Vergangenheit beschränkt. Auch das Sprachmodell hatte etwas zu bieten. Einer seiner falsch-positiven Funde ist Seite 164 im Buch Fremdenlegionär Kirsch von 1917. Hier die ausschlaggebende Textstelle:

Dann kamen wir an den Rhein-Marnekanal. Dort mußten wir die Losung abgeben. Die hieß heute „Paris-Pasteur“. Es war der Name einer Stadt und der Name eines berühmten Mannes mit gleichen Anfangsbuchstaben.

Begründung des Sprachmodells, warum es sich hierbei um eine vermeintlich relevante Literaturquelle handelt: „The description of the password "Paris-Pasteur" as the name of a city and the name of a famous person with the same initials implies a game with multiple categories and the same starting letter.“ Gar nicht mal so verkehrt. Vielleicht war die Auswahl der Losung tatsächlich durch einen Vorgänger von Stadt, Land, Fluss inspiriert.
Randnotiz: wer auf LLM-Details schauen will, wird mit folgendem Kommando auf den Daten hier fündig. $ xzgrep 'Paris-Pasteur' llm_responses_2_mistralai_mistral-small-3.2-24b-instruct.jsonl.xz

Schlusswort

„Seit wann gibt es eigentlich Stadt, Land, Fluss?“ Wer sich diese Frage stellt, findet hier eine Antwort — nicht notwendigerweise die Antwort. Ausschlaggebend ist, dass die Quellen, auf denen die Aussagen basieren, mit angegeben werden und frei zugänglich sind. Das macht zwei wichtige Dinge möglich.

Erstens schafft es Transparenz. Es versetzt jeden in die Lage, die präsentierten Informationen überprüfen und selbst nachvollziehen zu können. Zweitens ermöglicht es kollektives Schaffen von Wissen. Denn es gibt zum Ursprung von Stadt, Land, Fluss mit Sicherheit mehr zu entdecken, als hier beschrieben ist. Und da der „Bauplan“ für den vorliegenden Wissensstand einsehbar ist, kann jeder, der möchte, nach Belieben umbauen und erweitern.

Der ganze Spaß ist allerdings nur möglich, wenn wir öffentlich verfügbares Kulturgut haben, auf das wir unsere Gerüste bauen können. Glücklicherweise ist der deutsche Sprachraum hier verblüffend gut aufgestellt. Neben oben erwähnten Recherchequellen existieren etliche weitere Archive.

Es gibt also noch viel Spannendes zu entdecken! Ist das Buch „Kinder, wir spielen!“ von 1937 [33] wirklich der erste Text, der Stadt, Land, Fluss erwähnt? Gibt es vielleicht doch bestehende Forschung zum Ursprung von Stadt, Land, Fluss — und falls ja, sind die Ergebnisse anders, als die hier beschriebenen? Wann wurde Stadt, Land, Fluss das erste mal im Radio erwähnt? Und müsste man in historischen Tagebüchern nicht interessante Funde machen können? Der Fantasie für Folgefragen sind hier keine Grenzen gesetzt.

Hoffentlich konnte der Artikel etwas Lust machen, selbst Wissen zu schaffen, und die Wichtigkeit von Transparenz verdeutlichen. Das ist nicht nur bei Wissen wichtig, sondern auch bei Forschung und Software. Und da kann man überall mitmachen! Mitschreiben, mitforschen, mitcoden!

Danke fürs Lesen.

Und spielt mal wieder Stadt, Land, Fluss!

~Tarek (ORCID: 0000-0001-5028-0109)

Archiv: doi:10.5281/zenodo.17836060

Literaturverzeichnis

  1. Das Handlungs-Spiel in „Deutſches Leſebuch für die erſten Anfänger“ von Carl Friedrich Splittegarb (1784) S. 17 ↗︎, ↗︎, ↗︎
  2. Das Kaufmannsſpiel in „Der angenehme Gesellſchafter“ von „Der Sammler“ (1791) S. 9 ↗︎
  3. Züge aus dem Leben in „Morgenblatt für gebildete Stände vom 13.08.1814“ S. 3 ↗︎
  4. Das Kaufmannsſpiel in „Gesellſchaftliche Spiele für Kinder und junge Leute“ (1817) S. 167 ↗︎
  5. Anekdoten in „Der Sammler vom 03.11.1831“ S. 3 ↗︎
  6. Mein Nachbar gefällt mir in „Die reinste Quelle jugendlicher Freuden, oder 300 Spiele“ von Johann Adolf Ludwig Werner (1836) S. 128 ↗︎, ↗︎
  7. Le Logement in „Jeux et exercises de jeunes filles“ von Chabreul (1860) S. 192 ↗︎, ↗︎
  8. Das ABC-Spiel in „Kinder-Conversations-Lexikon“ von Wilhelm Weiss (1874) S. 724 ↗︎, ↗︎
  9. Mein Nachbar gefällt mir in „Encyklopädie der Gesellschafts-Spiele“ von Ludwig Alvensleben (1874) S. 228 ↗︎, ↗︎
  10. Mein Nachbar gefällt mir in „Deutschlands spielende Jugend“ von F. A. L. Jakob (1879) S. 292 ↗︎, ↗︎
  11. Mit gegebenen Anfangsbuchſtaben in „Illustrirtes allgemeines Familien-Spielbuch“ von Dr. Jan Daniel Georgens (1882) S. 12 ↗︎, ↗︎
  12. Das ABC-Spiel in „Das Buch der Spiele und Unterhaltungen für Knaben und Mädchen“ von Erich Sartorius (1887) S. 25 ↗︎, ↗︎
  13. Die Poſt in „Das Spiel im Zimmer“ von L. Mittenzwey (1887) S. 56 ↗︎, ↗︎
  14. Mein Nachbar gefällt mir in „Das Spiel im Zimmer“ von L. Mittenzwey (1887) S. 51 ↗︎, ↗︎
  15. Steeple-Chase in „Spielbuch“ von Robert Löwicke (1887) S. 102 ↗︎, ↗︎
  16. Das Fünfminutenſpiel in „Beschäftigungsbuch für Mädchen“ von Marie Bürkner (1890) S. 329 ↗︎, ↗︎
  17. Die Handlungsreisenden in „Beschäftigungsbuch für Mädchen“ (1890) S. 319 ↗︎, ↗︎
  18. Die Poſt in „Das Bewegungsspiel“ (1894) S. 79 ↗︎, ↗︎
  19. Reiſeſpiel in „Das Buch der Jugend-Spiele und -Beschäftigungen“ von Felix Moser (1899) S. 275 ↗︎, ↗︎
  20. Das ABC-Abfragen in „Großes illustriertes Spielbuch für Mädchen“ von Jeanne Marie Gayette-Georgens (1900) S. 1 ↗︎, ↗︎
  21. Der Handlungsreiſende in „Wiener Hausfrauen-Zeitung vom 18.09.1904“ S. 7 ↗︎
  22. Mit gegebenen Anfangsbuchſtaben in „Buch der Spiele“ von Alban von Hahn (1905) S. 8 ↗︎, ↗︎, ↗︎
  23. Das ABC der Großen oder das Reiſeſpiel in „Das große illustrierte Spielbuch“ von Theodor Rulemann (1909) S. 4 ↗︎, ↗︎
  24. Mein Nachbar gefällt mir in „Das große illustrierte Spielbuch“ von Theodor Rulemann (1909) S. 70 ↗︎, ↗︎
  25. Mein Nachbar gefällt mir in „Illustriertes Spielbuch für Knaben“ von Hermann Wagner (1909) S. 302 ↗︎, ↗︎
  26. The Holiday ABC in „The new Children's encyclopædia“ (1910) S. 104 ↗︎, ↗︎
  27. Das Handel-Bandel-Spiel in „Spiel und Spaß und noch etwas“ von K. Dorenwell (1911) S. 104 ↗︎, ↗︎
  28. Mein Nachbar gefällt mir in „Deutschlands spielende Jugend“ von F. A. L. Jakob (1911) S. 720 ↗︎, ↗︎
  29. Schreibspiel in „Spiele aus meiner Jugend für die Jugend“ von Louisa Cortin-Gehr (1911) S. 26 ↗︎, ↗︎
  30. Wer reiſt mit in „Hohenſtein-Ernſtthaler Tageblatt vom 17.07.1912“ S. 8 ↗︎
  31. ABC-Spiel in „Heidelberger Volksblatt vom 05.07.1934“ S. 5 ↗︎
  32. Das Achterſpiel in „Der Wiener Tag vom 29.07.1934“ S. 26 ↗︎
  33. Stadt, Land, Fluß in „Kinder, wir spielen!“ von Ilse Obrig (1937) S. 17 ↗︎
  34. Ein lehrreiches Spiel in „Neuigkeits-Welt-Blatt (Wien) vom 20.02.1938“ S. 43 ↗︎
  35. Stadt, Land, Fluß in „German Club Manual“ von Emma Marie Birkmaier (1949) S. 70 ↗︎, ↗︎
  36. Stadt, Land, Fluß in „Österreichische Zeitung vom 14.11.1954“ S. 9 ↗︎